Wann ist ein Körper schön?
Der LuT-Kurs (J2) inszeniert ein Stück über Body Positivity
Im zweiten Jahr des Literatur und Theater – Kurses müssen meine Schülerinnen und Schüler immer eigenständig ein Theaterstück schreiben und inszenieren. In diesem Schuljahr lautete die anspruchsvolle Aufgabe, ein dokumentarisches Theaterstück zu entwickeln, editieren, proben und aufzuführen, auch ohne Pandemie eine Herausforderung!Im deutschen Sprachraum gilt Erwin Piscator als Schöpfer dieser speziellen Theaterform, die ausschließlich bereits existierende Dokumente (daher der Name „Dokumentarisches Theater“) benutzt, um daraus ein Stück zu machen. Piscators Agitprop Revuen während der Weimarer Republik waren in seinen eigenen Worten eine Collage aus „authentischen Reden, Aufsätzen, Zeitungsausschnitten […], Fotografien und Filmen des Krieges und der Revolution“.
Im englischsprachigen Theater erfreut sich das Dokumentarische Theater in der besonderen Form des „Verbatim Theatre“ bis in die Gegenwart besonderer Beliebtheit. Hierbei werden zumeist Interviews Wort für Wort transkribiert und zum Theatertext geformt. Noch immer wird es vornehmlich im Bereich des politischen Theaters angesiedelt, schließt aber (auch gerade deshalb) immer wichtige gesellschaftliche und soziale Aspekte ein.
Der Wahrheitsanspruch, den das Dokumentarische Theater erhebt, steht aber auch immer wieder in der Kritik: Wie „wahr“ ist das Geschehen auf der Bühne? Darf das Textmaterial in irgendeiner Art und Weise verändert werden? Dürfen Zitate aus dem Zusammenhang gelöst werden? Wie verändert sich die Bedeutung, wenn Aussagen unterschiedlicher Menschen sich in einem neuen und veränderten Kontext gegenübergestellt werden? Weitere ethische Fragen, die gestellt werden müssen, betreffen die Interviewpartnerinnen und -partner. Ihre Anonymität muss gewahrt und geschützt werden, insbesondere bei sensiblen und intimen Bekenntnissen. Weder die Theatermacherinnen und -macher, noch das Publikum darf vergessen, dass die Worte, die sie hören, „echte“ Worte sind, und von „echten“ Menschen gesprochen wurden. Gerade in unserer Zeit der eigenen Filterblase und Hate Speech ist es wichtig, einander zuzuhören und das „Verbatim Theater“ bietet uns allen diese Chance. Es gilt die gesprochenen Worte anzunehmen und zu respektieren, sie nicht zu belächeln oder gar zu verspotten. Dafür tragen wiederum die Theatermacherinnen und -macher zunächst bei der Arbeit am Text, später im Spiel Verantwortung.
Zu Beginn des Schuljahres 2020/21 wählten die Schülerinnen und Schüler das Thema „Body Positivity“ als Projektthema. Sie erstellten einen Fragekatalog und führten Interviews mit unterschiedlichen Menschen aus ihrem Umfeld. Diese wurden transkribiert und im Kurs zur Verfügung gestellt. Aus den Interviews entwickelten die Schülerinnen und Schüler einzelne Szenen, in denen sie in die Rollen ihrer Interviewpartnerinnen und -partner schlüpfen würden. Aus den offenen und ehrlichen Schilderungen von Erlebtem und wie diese damit umgingen und umgehen, entstand so ein zutiefst berührender Theatertext. Ergänzt wurden persönliche Bekenntnisse mit anderen „Dokumenten“ aus dem Internet und/oder Medien: Kommentare aus sozialen Medien, populär-wissenschaftliche Stellungnahmen, Liedtexte usw. Durch die Schulschließung wurde der Probenprozess unterbrochen. Wir beschlossen, den Aufführungstermin auf den Frühsommer zu schieben, in der Hoffnung, vor Publikum auftreten zu dürfen. Letztlich blieb die Ungewissheit, ob oder wann dies möglich sein würde, so groß, dass wir den Entschluss fassten, das Theaterstück zu filmen und für einen begrenzten Zeitraum im Internet zu veröffentlichen. Erst nach den schriftlichen Abiturprüfungen konnten die Proben wieder aufgenommen werden. Schließlich wurde das Stück in der allerletzten Unterrichtsstunde des Kurses gefilmt – vielen herzlichen Dank an Moritz Roller und Aaron Staude, ohne die das nicht gelungen wäre!
Vom 15. bis 18. Juli 2021 konnte das Stück „VERKÖRPERT“ in voller Länge gestreamt werden.
Birgit Heike Knobloch